17. Juni 2017

CHANGE HEAD

Woran denken Sie bei der Abkürzung TAT? An das Theater am Turm in Frankfurt? An Twin Arginine Translocation, ein Transportsystem aus Pflanzen und Bakterien? An Turnaround-Time, die Zeitspanne zwischen der Spezifikation eines Projektes und dessen Auslieferung oder an Tapas-Akupressur-Technik, eine Richtung der Klopfakupressur?

Seit vorgestern denke ich bei TAT vor allem an das Tieranatomische Theater, das älteste erhaltene Lehrgebäude Berlins und ein Meisterwerk des preußischen Frühklassizismus, das seit mehreren Jahren als Raum für Ausstellungen mit Laborcharakter genutzt wird.

Dort habe ich im Rahmen des Performing Arts Festivals die Lecture Performance Skull X von Flinn Works gesehen. Zwei biografische Geschichten im Kontext deutscher Kolonialgeschichte kreisen bei dieser Performance um einen Schädel und landen letztlich im Innersten des eigenen Kopfes.

Und während ich diesen Schädel fixiere, der dort unten auf einem kleinen Tisch liegt und im wahrsten Sinn des Wortes Projektionsfläche ist für ebenso faszinierende wie erschreckende Fotografien und Videos, sehe ich das Werbe-Plakat „Enjoy your life!“ vor mir, das momentan an meiner Bushaltestelle an der Krupp-Straße hängt.

Enjoy your life: so heißt die aktuelle Ausstellung des Fotografen Jürgen Teller, die noch bis Anfang Juli im Martin-Gropius-Bau zu sehen sind. Teller, der in London lebt und vor allem für seine Modeaufnahmen bekannt ist, spielt gezielt mit Brüchen unserer Sehgewohnheiten und Erwartungen und er visualisiert etwas, das man „nicht perfekte Schönheit“ nennen könnte.

Ist er schön, der Schädel dort unten? Nicht perfekt schön? Und passt das Konzept Schönheit überhaupt zu diesem Ding, das eher Symbol als Objekt zu sein scheint?

Ein Symbol für Memento Mori… für Vita Brevis.

Auf dem Ausstellungs-Plakat sind Aufforderungen zu lesen wie „change head“. Ironische Anspielungen auf den Selbst-Optimierungs-Wahn.

Change head.

Ja, genau das möchte ich, so lange mein Schädel noch fleisch- und hautgeschmückt ist: Ich möchte meinen Kopf „tscheindschen“, meine Denk- und Sinnweisen wechseln. Aus Überzeugung und aus Vergnügen.

Und das hat für mich sowohl mit der Aufforderung „Genieße das Leben!“ zu tun als auch mit künstlerischem Ausdruck.

Vita brevis, ars longa! raunt mir der Schädel zu. Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. Wobei in diesem Aphorismus des griechischen Arztes Hippokrates mit „Kunst“ vielmehr die „Lehre“ gemeint war und das katapultiert mich zurück in diesen alten Hörsaal und ich spüre ganz deutlich, dass Wissenschaft und Kunst manchmal gar nicht so weit auseinander liegen.

P.S.: TAT ist übrigens auch die Abkürzung für Thematischer Apperzeptionstest, ein projektiver Persönlichkeitstest aus der Motivationspsychologie, bei dem die Versuchsperson – unter anderem – auf der Grundlage von Bildtafeln möglichst dramatische Geschichten erfinden muss.

Auch dem Schädel dort unten werden im Rahmen dieser Performance dramatische Geschichten zugeordnet. Der Unterschied ist allerdings: der historische Unrechts-Hintergrund dieser Geschichten ist real. In der TAT.

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