31. Oktober 2014

DER TAGTRAUM ALS POLITISCHER AKT

dickensNach meiner Woche auf der Akademie Fürsteneck fahre ich im ICE zurück nach Berlin. Neben mir sitzt ein älterer, schweigsamer, sympathischer Mann. Als er in Kassel-Wilhelmshöhe zusteigt, legt er als erstes ein Taschenbuch auf seinen Sitz, noch bevor er selbst Platz nimmt. Es ist ein dickes englisches Original. The Old Curiosity Shop von Charles Dickens.

Ich verfalle sofort einer meiner alten Leidenschaften: den ersten Wörtern, die ich in einem solchen fremdgelesenen Buch entdecke, Bedeutung beizumessen. Und als der Mann das Buch aufschlägt und zu lesen beginnt fällt mein Blick auf die Formulierung: „What a night-time in this dreadful spot.“

Ein Satz, der mich sofort in eine innere Bilderwelt albhafter Nachtträume katapultiert.

Visionen, Wünsche und Träume waren in dieser Woche auf Burg Fürsteneck immer wieder Thema. Der Begriff Visionen ist für viele Menschen nicht nur ein großes, sondern ein ZU großes Wort. Sie scheuen sich davor oder können es nur schwer in Verbindung mit ihrer eigenen Person und ihrem eigenen Leben bringen. So als seien Visionen eher etwas für PolitikerInnen, Heilige oder Größenwahnsinnige anderer Couleur.

Aber es gibt auch eine Art kleine Schwester dieser ’großen’ Vision. Eine, die uns – wissenschaftlich nachgewiesen – mehrmals täglich heimsucht, auch wenn uns das meist gar nicht bewusst ist. Eine, die ausschließlich positive Auswirkung hat und uns beispielsweise unterstützt in Stress und schwierigen Situationen: der Tagtraum.

Tagträume sind keine unbedeutenden Abschweifungen, sondern eine äußerst effektive Form des Gefühlsmanagements. Sie beruhigen, trösten und erfreuen uns.

Leider nehmen wir diese Wirklichkeitsverweigerung auf Zeit meist gar nicht bewusst wahr.

Natürlich kann man trainieren, sich dieser Wirklichkeitsverweigerung auf Zeit freudvoll hinzugeben und das Recht auszukosten, sich auch in der Gemeinschaft immer mal wieder für kurze Momente in sich selbst zurückzuziehen.

Heiko Ernst, Autor des Buches ’Innenwelten’ nennt den Tagtraum gar einen politischen Akt. Denn in der selbstgewählten Distanz zur Realität liege ein Quell der Stärke. Für unsere Kritikfähigkeit, unsere Wahrnehmungsfähigkeit und für unsere Freiheit.

Und ob Sie’s glauben oder nicht: beim zweiten Seitwärts-Blick in das Buch meines Sitznachbarn lese ich: what a soothing, luxurious way…

Ist das nicht ein wunderschönes Bild für einen Tagtraum?

So wünsche ich Ihnen für Ihre nächste Woche eine Menge bewusst genossene Tagträume. (Und natürlich auch darüber hinaus!)

zurück