30. September 2013

EGOZENTRISCHER GRÖßENWAHN

Tja, Reich-Ranickis Tod… Die Nachrufe allesamt positiv und allesamt mehr oder weniger Varianten dessen, was Frank Schirrmacher von der FAZ, der ihm auch persönlich sehr verbunden war, bewundernd sagt: „Er war ein großer Mann.“

All diese Nachrufe auf diesen großen Mann, diesen Literatur-Papst sind nachvollziehbar. Dennoch: sie verursachen in mir ein ungutes Gefühl. Denn etwas meiner Ansicht nach Wesentliches bleibt ungesagt. Eine sehr bestimmende und wirkungsvolle Seite an ihm: seine gnaden- und kompromisslos verletzende Seite.

Unzählige Male und auf unterschiedlichste Weise hat er unter anderem seine Gesprächspartner verletzt, beispielsweise indem er seine Sachargumente mit der menschlichen Ebene verknüpft hat. Schmerzhaft in Erinnerung beispielsweise die Folge des Literarischen Quartetts, in der er seine Kollegin Sigrid Löffler – alles andere als eine leicht verletzbare und zart besaitete Person – durch diese seine Art zum Weinen brachte. Für sie war eine Grenze überschritten. Sie hat das Quartett verlassen.

Seinen egozentrischen Größenwahn haben er und andere wahlweise mit den Scheinargumenten gerechtfertigt, die Wahrheit müsse zumutbar sein… er sei von der Leidenschaft für die Literatur getrieben und könne nicht anders… er sei Anwalt der so genannten und von ihm definierten „guten Literatur“ oder aber – besonders perfide – das Publikum genieße diese Form von Unterhaltung.

„Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik.“ Auf diese seine Haltung war er offensichtlich sogar stolz.

Natürlich passt da die Bezeichnung Literatur-Papst besonders gut. Auch ein Papst ist der Meinung, dass sein Wort die Wahrheit sei. Und auch die Gläubigen glauben das. Außerdem gibt es lediglich EINEN, der noch über dem Papst steht: Gott. Und von Reich-Ranicki wissen wir, dass er nicht gläubig war…

Mich hat diese Art von Gesprächskultur schon immer abgestoßen, denn sie hat meiner Ansicht nach sehr plastisch gezeigt, dass Reich-Ranicki letztlich die Literatur mehr wertgeschätzt hat als den Menschen, der diese Literatur liest.

Es ist Usus, über Tote nichts Schlechtes zu sagen. Zumal nicht so kurz nach deren Tod. Eine hat sich dieser Regel widersetzt: die Autorin Juli Zeh. Ein Klient hat mich aufgrund meines letzten Blogeintrags auf Zehs Nachruf aufmerksam gemacht, in welchem sie schreibt, dass dem Anspruch von Reich-Ranicki auf Deutungshoheit etwas Antiquiertes anhaftete… der Diskurs inzwischen vielstimmiger geworden sei… und sie dem literaturkritischen Stil, für den er stand, nicht nachtrauere.

Ist das nicht wunderbar auf den Punkt gebracht?

Zeh wurde vor wenigen Tagen mit dem diesjährigen Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. In der Jurybegründung heißt es, sie sei eine temperamentvolle und experimentierfreudige Erzählerin, die in ihren Werken die Frage nach individueller Freiheit und Verantwortung, nach gesellschaftlichen Werten und Orientierungen in den Mittelpunkt stelle.

Die Preisträgerin wurde am 18. September bekannt gegeben, einen Tag, bevor Marcel Reich-Ranicki gestorben ist. Mit ihrem Nachruf hat sie wie ich finde erneut unter Beweis gestellt, dass sie diesen Preis verdient, denn auch literaturbezogene Werte sind Werte, die hinterfragt werden müssen!

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