23. September 2011

EIN AUTO NAMENS ERLKÖNIG

O.k.: Für diese Woche habe ich Ihnen einen „doppelten Erlkönig“ versprochen. Also Folgendes: Vor kurzem habe ich den beeindruckenden Spätwestern „True Grit“ von den Coen Brüdern gesehen.

(Diese Verfilmung des gleichnamige Roman von Charles Portis, der – Übrigens Nr. 1 – von vielen Expert*innen als einer der besten amerikanischen Schriftsteller angesehen wird, obwohl ihn praktisch Niemand kennt, ist – Übrigens Nr. 2 – eine Neuinterpretation des Western-Klassikers „Der Marshall“ mit John Wayne).

Jeff Bridges spielt den starrsinnigen, versoffen U.S. Marshall Rooster Cogburn, der von der 14jährigen Mattie angeheuert wird, den Mörder ihres Vaters zu finden. Aus einer problematischen „Geschäftsbeziehung“ wird nach und nach eine Art Vater & Tochter-Beziehung, die ihren Höhepunkt darin findet, dass Cogburn mit der wegen eines Schlangenbisses vom Tode bedrohten Mattie auf einem Pferd so schnell wie möglich durch die Nacht reitet. „Er erreicht den Hof (des Arztes) mit Müh’ und Not. In seinen Armen das Kind war…“ in dieser Version NICHT tot. Mattie wird lediglich armamputiert. Stattdessen stirbt das Pferd.

Dieser Ritt hat mich stark an Goethes Erlkönig erinnert. Ich wollte mehr über Erlkönig-Interpretationen wissen, habe recherchiert und Verblüffendes gefunden: Vom Alptraum eines Opfers sexueller Gewalt ist da die Rede, das den Täter in zwei Personen zerlegt, den „guten Vater“ und den „bösen Erlkönig“. Anderen Interpretationen zufolge verkörpert die Figur des Erlkönigs unbewusste pubertäre Ahnungen, das Ende der naiven Kindheit und der zwangsläufige Eintritt in die Welt der Erwachsenen.

Diese Interpretationen überzeugen mich zwar nicht wirklich, dennoch gibt es Parallelen: die Verbindung zum (paradiesischen?) Schlangenbiss, dem amputierten Arm als eine Art Opfer, um erwachsen zu werden sowie dem sofort darauf folgenden Filmschnitt zur erwachsenen Mattie.

Fest steht: der Erlkönig selbst ist unsichtbar.

Und doch habe ich ihn vor kurzem gesehen! Auf der Autobahn jagte er an mir vorbei. Es war ebenfalls Nacht und er zeigte nicht seine Gestalt… Sie ahnen, was ich gesehen habe?

Genau: Erlkönig ist die Bezeichnung für den Prototyp eines neuen Automodells, das als Testwagen sein Unwesen treibt. Der Hersteller will auf keinen Fall vorab preisgeben wie das Design des Nachfolgemodells aussieht und tarnt es deshalb mit verschiedenen Kunststoffverkleidungen.

Wie ein verwundeter Krieger sah es auch, schwarz verklebter Kunststoff, verletzlich und gefährlich zugleich. Und ich dachte, wer weiß, vielleicht steckt unter dem Deckmantel von Goethes bedrohlichem Erlkönig ebenfalls eine verletzliche Seele?

Das wiederum würde dazu passen, dass der Erlkönig eigentlich Elfenkönig heißen müsste, denn der Stoff der Ballade stammt aus dem Dänischen, dort heißt der Erlkönig Ellerkonge, Elfenkönig. Johann Gottfried Herder hat schlicht falsch übersetzt, indem er aus Eller eine Erle machte. Ich finde, auch DAS eine Art Kunst-Stoff-Verkleidung, oder?

Das war sie: die Geschichte meiner beiden Erlkönige. Lang ist sie geworden.

 

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