EINE STADT ALS OFFENES BUCH
Am Wochenende habe ich ein Short-Story-Seminar auf der Akademie Burg Fürsteneck geleitet. Diese Burg – ganz in der Nähe von Fulda – ist ein besonderer Ort. Umgeben von Feldern und Wäldern befindet sich der nächste Bahnhof, Hünfeld, 16 km entfernt.
Diese Strecke muss ich manchmal mit dem Taxi fahren, so auch am Sonntag. Dabei ist mir zum ersten Mal das große Transparent aufgefallen, das über die Hauptstraße gespannt ist: „Hünfeld ist ein offenes Buch“.
Und tatsächlich: an manchen Häuserwänden waren großformatige Buchstaben, Wörter und Satzkonstruktionen zu lesen. Der Taxifahrer erzählt, dass es diese Aktion schon seit mehreren Jahren gibt, kann mir allerdings nichts Näheres dazu sagen. Also hab ich recherchiert.
Der Hünfelder Künstler Jürgen Blum hat 1996 sein erstes „Buchstabenkunstwerk“ an eine Häuserwand geschrieben. Mittlerweile sind über 100 Fassaden sowie viele Pflastersteine „betextet“. Bürgermeister Fennel ist davon überzeugt, dass diese Aktion „den Charakter einer ganzen Stadt verändern kann“ und zitiert damit den Vater der Konkreten Poesie, Eugen Gomringer (über dessen Tochter Nora und deren neue CD WIE SAG ICH WUNDER, die sie mit dem Wortart Ensemble aufgenommen hat, ich mich auf der Leipziger Buchmesse mit dem Verlag Voland & Quist unterhalten habe und ich jetzt, während ich diesen blog-Beitrag schreibe, denke, dass sich diese vier CD-Wörter auch wunderbar für die Hausfassaden eignen würden und dies nicht nur deshalb, weil sie ohne Satzzeichen geschrieben sind, sondern auch, weil sie zu ellenlangen Fluss-Sätzen einladen wie diesen hier, den ich aber beenden werde JETZT!).
Blum selbst spricht vom Traum vieler DichterInnen, das Wort zu befreien und ist davon überzeugt, dass Konkrete Poesie „einfach nur da“ ist. „Sie soll nicht weisen, nicht vom Autor abhängig sein.“
Als ich am Bahnhof mein Gepäck aus dem Taxi hieve, lese ich an der Fassade:
wer den Raum fühlen will
muss jeden festen Punkt
aufgeben
Wie passend für einen Bahnhof. Und auch fürs Schreiben.
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