13. Dezember 2015

FRAUEN MIT ERINNERUNGEN

BildAlexandra Cedrino-Nahrstedt, eine Seminarteilnehmerin, die wunderbar schreibt und fotografiert, zeigt mir am Mittwoch ein Handy-Foto, das sie in der Nähe des Ku’damm aufgenommen hat: eine fotografische Antwort auf meinen Blogbeitrag von letzter Woche. Als sie mir später das Foto für den heutigen Blogeintrag mailt, schreibt sie dazu: „Ich glaube, der Anblick empört mich so, da es mit dem Bild der Frau als ’blanker’ Projektionsfläche für Konsumansprüche spielt! Durch die ‚abgetrennten‘ Arme kommt es mir noch brutaler vor, da der ‚Frau‘ dadurch irgendwie die Möglichkeit der Gegenwehr genommen wird.“

Einen Tag später, am Donnerstag, erhält Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis „ für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt.“ Alexijewitsch, die bereits 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, kennt sich mit Möglichkeit und Unmöglichkeit der Gegenwehr aus. Sie weiß, was es bedeutet, literarisch amputiert, sprich: zensiert, zu werden.

Diese Erfahrung hat sie im Russland Anfang der 80er Jahre mit ihrem Buch ’Der Krieg hat kein weibliches Gesicht’ gemacht. Einer Zusammenstellung von Erzählungen und Briefen von Frauen, die Alexijewitsch in Hunderten von Interviews zu ihren Erfahrungen als Soldatinnen der Roten Armee befragt hat.

Etwa 1 Millionen Frauen kämpften in dieser Armee und wurden – im Gegensatz zu England, Amerika und Deutschland – in allen Bereichen eingesetzt. Mit diesem Buch wurden zum ersten Mal überhaupt die Erinnerungen dieser Frauen gehört und damit lesbar und somit sichtbar gemacht.

Die russische Zensurbehörde warf Alexijewitsch vor, die „Ehre des Großen Vaterländischen Krieges“ beschmutzt zu haben. Erst 1985, nachdem Gorbatschow die Perestoika ausgerufen hatte, konnte dieses Buch in Russland erscheinen und rief eine ungeahnte Resonanz bei vielen Frauen hervor, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nie über ihre Erfahrungen hatten reden können.

Dieses Buch macht meines Erachtens außerdem deutlich, wie wichtig es ist, Kategorien wie Gender, Oral History und den Umgang mit Erinnerungen in die so genannten wissenschaftlichen Methoden der Kriegsforschung einzubeziehen.

Und wenn ich mir dieses Foto ansehe, dann ist für mich die anonyme, halbnackte, amputierte Frau im Schaufenster auch ein Symbol für die Anonymität und den Missbrauch von Frauen, die als leicht konsumierbare Projektionsflächen dienen. Sei dies in einem Schaufenster oder im Rahmen einer männlichen Geschichtsschreibung.

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