ICH KANN ES NICHT MEHR HÖREN
Schon wieder ist die Überschrift eines Artikels Auslöserin für meinen Blogbeitrag. „Ich kann es nicht mehr hören.“ lautet sie diesmal.
Aber von Anfang an.
In dieser Woche habe ich mir die Ai Weiwei Ausstellung Evidence im Martin Gropius Bau angesehen. Während der Führung ist immer wieder sein gezielt strategischer Umgang mit den Medien kritisiert worden, die er für seine Zwecke nur allzu clever einzusetzen wisse.
Tatsächlich ist es durchaus nicht leicht, diese tatkräftig aktive Fähigkeit zu vereinbaren mit dem Bild des Künstlers als „Opfer“, der unter ständiger Bewachung steht und nicht ausreisen darf.
Ähnlich schwierig wie sein politisches Anliegen auf der einen Seite und dessen künstlerische Umsetzung für die „Massen“ auf der anderen.
Stellvertretend sei hier Sacha Verna (Deutschlandfunk) zitiert: „Ai Weiwei bereitet die Zu- und Missstände in China für sein westliches Publikum auf. Er macht gesellschaftskritisches Engagement zum musealen Unterhaltungsprogramm. Die Symbolik ist knüppeldick und wirkungsvoll, weil Ai Weiweis Werke vom Betrachter keinen Aktivismus verlangen, sondern lediglich Reaktivismus. Man guckt, findet gut und marschiert von dannen, erleichtert darüber, dass Weltprobleme in Kunstform so wunderbar einfach zu bewältigen und ästhetisch anspruchslos sind.“
Ich finde Ai Weiweis „Kunstform“ (was für ein Wort!) alles andere als ästhetisch anspruchslos. Dennoch sehe ich diese widersprüchlich wirkenden Aspekte ebenfalls und kann sie für mich noch nicht endgültig verorten.
Muss ich auch nicht. Es darf offen bleiben. Nur eins soll es nicht werden: erleichtert abgehakt. Denn das wichtigste ist Ai Weiwei, dass Menschen in Dialog kommen und bleiben. (Dass er sich selbst dabei nicht ausnimmt, wird unter anderem daran deutlich, dass er aus Prinzip keine Interviewanfrage ablehnt, egal, wer sie stellt.)
In der Ausstellung sagte eine Besucherin dann schließlich: „Ich kann es nicht mehr hören!“
Und genau dieser Satz ist in der aktuellen ZEIT die Überschrift zum Interview mit der Kinderbuch-Autorin Cornelia Funke, die damit auf die Frage geantwortet hat, ob die lesefaulen Kinder denn „trotz der spannenden digitalen Angebote“ in Zukunft überhaupt noch lesen werden.
Hintergrund: Funke ist von digitalen games fasziniert und hat spezielle Apps zu ihren Büchern entwickelt. Aktuell entsteht beispielsweise ein „atmendes“ Buch zu „Drachenreiter“, für das „ganz wilde Sachen“ geplant seien.
Es gefällt mir immer, wenn zwei Menschen, die auf den ersten Blick scheinbar nichts gemeinsam haben, in Dialog (sic!) treten und sich plötzlich Gemeinsamkeiten zeigen.
In meiner Fantasie tun das seit ein paar Tagen Funke und Ai Weiwei und mittlerweile planen sie dort bereits ein gemeinsames Projekt, denn:
Auch Ai Weiwei liebt digitale Welten. So ist er beispielsweise auf der kollaborativen Plattform MOON mit dem Künstler Olafur Eliasson aktiv. Funke wiederum hat das Buch „Mick und Mo im Weltraum“ geschrieben.
Auch er hat Bücher veröffentlicht: die drei Titel „The Black Cover Book“, „The Grey Cover Book“ und „The White Cover Book“ ähneln – was Trilogieaspekt und Titelansatz betrifft – Funkes Tintenwelt-Trilogie „Tintenherz“, „Tintenblut“ und „Tintentod“. Umgekehrt könnte der Titel von Funkes aktueller Werkschau in Lübeck „Eine andere Welt“ ebenso gut zu Ai Weiweis Retrospektive passen.
Beide sind eng mit den USA verbunden. Ai Weiwei hat rund 10 Jahre in New York gelebt und Funke lebt seit rund 10 Jahren in Los Angeles.
Und nicht zuletzt: Beide sind sehr medienbewusst, machen Kunst für die so genannten „Massen“ und dies wurde nicht nur dem chinesischen Künstler, sondern auch der deutschen Autorin immer wieder zum Vorwurf gemacht. (So hat sich beispielsweise die SPIEGEL-Bestseller-Liste lange Zeit geweigert, Funkes Werke trotz enormer Verkaufszahlen aufzunehmen – im Gegensatz zu den Harry Potter Bänden.)
Funke sagte einmal, dass sie sich mittlerweile als „Geschichtenerzählerin für die Welt“ fühle. Und das, so finde ich, ist Ai Weiwei ebenfalls: ein Geschichtenerzähler für die Welt.
Und ist die Welt nicht die schönste vorstellbare Masse überhaupt?
zurück