05. April 2014

KEIN SCHRIFTSTELLER, DER BEI TROST IST, SCHREIBT EINE AUTOBIOGRAFIE

Vorgestern ist der Schweizer Autor Urs Widmer gestorben.

Höre ich seinen Namen, kommt mir sofort das Cover seines Buches Der blaue Siphon in den Sinn. Aus irgendeinem Grund beeindruckt mich der darauf abgebildete gemalte Siphon. Er sieht aus wie eine Sauerstoff-Flasche für Taucher*innen… wie ein blauer Feuerlöscher… wie ein blaues Wunder…

Das Buch selbst ist eine Art Märchen. Es hat zwei Erzähler (bei denen es sich um ein- und dieselbe Person handelt: mit 53 und mit drei Jahren) und ist autobiografisch gefärbt wie sehr vieles, das Widmer geschrieben hat. Allem voran seine Trilogie Der Geliebte der Mutter, Das Buch des Vaters und Ein Leben als Zwerg.

Immer wieder hat Widmer davon gesprochen, dass er seine Ängste „in Geschichten verwandelt“ habe. Mir gefällt das Bild der Verwandlung. Denn im Gegensatz zum üblicherweise vorgebrachten Autobiografie-Aspekt der Verarbeitung von Ängsten geht eine Verwandlung weit über diese (un)bewusste Funktionalisierung des eigenen Schreibens hinaus und nimmt den literarischen, um nicht zu sagen: märchenhaften oder sogar magischen Aspekt stärker in den Fokus.

Widmers letztes Buch, das vor einem halben Jahr erschienen ist, heißt Reise an den Rand des Universums und ist eine vergleichsweise klassische Autobiografie seiner ersten 30 Lebensjahre. Der erste Satz dieses seines letzten Buches lautet: „Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie.“

Der erste Satz seines ersten veröffentlichen Textes überhaupt, der Erzählung Alois, liest sich folgendermaßen: „Aus meinem Kamin kommt Rauch, jetzt scheint die Sonne.“ Diesen Satz tippte Widmer 1967 ohne jeden Plan, wie er sagte, „ohne irgendeine ausgeformte Idee“.

Seitdem hatten sich viele Ideen ausgeformt und viel Rauch war aus seinem Kamin gestiegen.

Doch mit diesem Buch war Widmer offensichtlich auch am Rand seines Schreibuniversums angekommen. In einem ZEIT-Interview Ende letzten Jahres sprach er von seinem Gefühl „seinen Vorrat an Geschichten aufgebraucht zu haben.“

Bedeutet das vielleicht auch, dass er am Ende seines Lebens keine Ängste mehr hatte, die in Geschichten verwandelt werden wollten? Das wünsche ich ihm nachträglich. Und eine gute Reise ans Ende des Universums…

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