18. März 2012

MEHR ALS ZWEI, DREI STORIES PRO JAHR SCHAFFT SIE NICHT

Vor vier Tagen habe ich in der autorenbuchhandlung Berlin einen inspirierten „Abend für Alice Munro“ erlebt. Ihre Übersetzerin Heidi Zernig, die Autorin Judith Hermann und die Kulturjournalistin Manuela Reichart haben aus einigen (denn natürlich haben Sie jede Menge!) ihrer Munro-Lieblingsgeschichten gelesen und über ihre persönlichen Verbindungen zu dieser Autorin erzählt.

So gesteht Judith Hermann beispielsweise, dass es durchaus stimmt: wenn man selbst gerade an einer Kurzgeschichte arbeitet und dann liest man Munro und denkt „So wird es nie werden!“ – das sei schon deprimierend, selbst wenn man natürlich kein Munro-Imitat sein wolle, trotzdem…

Und als sie das erzählt, schweift ihr Blick übers Publikum: „Sie alle könnten eine Protagonistin in einer Geschichte von Munro sein.“

Na, wenn das nichts ist: Eine von diesen facettenreichen Protagonistinnen, mit denen man sich automatisch identifiziert, so dass sie einem seltsamerweise immer so alt vorkommen wie man selbst gerade ist – jedenfalls geht es Hermann so. Wie macht sie das bloß, die Munro.

Zunächst mal lässt sie sich Zeit. Mehr als zwei, drei Stories pro Jahr schafft sie nicht. Und während ich noch darüber nachdenke, ob das viel ist oder wenig (Was meinen Sie?), erfahre ich, dass Munros prägendes Buch ihrer Kindheit nicht irgendein süßlicher Peter Rabbit-Band war, sondern Charles Dickens’ zweibändige Geschichte Englands für Jung und Alt, in der sie beispielsweise fasziniert gelesen hat, wie viele Schläge notwendig waren, um Anne Boleyn zu enthaupten.

Verblüffend, dass Munro dennoch nicht abgebrüht genug war, um das traurige Ende von Andersens Kleiner Meerjungfrau zu ertragen: sie hat den Schluss kurzerhand in ein Happy End verwandelt.

Verblüffend auch, dass Heidi Zernig tatsächlich NICHT die Stories zuerst ganz im Original liest, bevor sie sich ans Übersetzen macht, sondern sich Satz für Satz in die Geschichte hineintastet, um keinem „Vorauswissen“ zu erliegen.

O.K., alles interessant, aber was will ich Ihnen heute eigentlich sagen?

Vielleicht das: wenn Sie gerade selbst vorhaben, eine Kurzgeschichte zu schreiben, dann probieren Sie doch mal testweise diese im besten Sinn „naive“ Vorgehensweise von Zernig und tasten Sie sich ebenfalls Satz für Satz in Ihre Geschichte hinein, ohne vorher über das Ende nachzudenken.

Stimmt, das ist kein typischer Tipp von mir. Aber solch ein Abend inspiriert eben. Und wer weiß, vielleicht entwickelt sich dann während Ihres Schreibens das, was Judith Hermann visioniert hat: Sie sind plötzlich selbst Protagonistin einer Geschichte: Ihrer eigenen!

P.S.: Am 10. Juli 2011, zu ihrem 80. Geburtstag, habe ich meinen Blogeintrag ebenfalls Alice Munro gewidmet. Und mein nächster Blogeintrag über sie wird die Tatsache feiern, dass sie ENDLICH den Literaturnobelpreis erhalten hat. Und falls dies nicht passieren wird, können wir uns trotzdem freuen, denn – so Reichart – „dann haben wir sie wenigstens für uns allein…“

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