NOCH NICHT VOM SINN BESETZTE ORTE
In dieser Woche startete mein Workshop Flanieren in der Friedrichstraße, bei dem ich Schreiben und Fotografieren miteinander kombiniere und mit den Teilnehmer*innen die Kunst des Flanierens neu beleben möchte.
Hat dieser Begriff in unserem Leben heute überhaupt noch eine Bedeutung? Wann sind Sie das letzte Mal flaniert – und haben Sie es so genannt?
Flanieren wird klassischerweise mit Männern in Verbindung gebracht. Und tatsächlich: sofort hat man das Bild eines männlichen Flaneurs aus dem 19. Jahrhundert vor Augen. Ein bisschen selbstverliebt ist er vielleicht und natürlich trägt er Hut.
Schon bei der Überlegung, wie das weibliche Pendant heißt, gerät man ein wenig ins Stocken: die Flaneuse? Wohl kaum… Die Flaneurin?
Kulturhistorisch gesehen ist das weibliche Pendant „la passante“, die Passantin. Eine Frau, die vorbeigeht… auch am männlichen Blick. Denn häufig ist es der Mann, der la passante beschreibt. Marcel Proust beispielsweise.
Wie also fühlt es sich als Frau des 21. Jahrhunderts an, ohne Ziel durch die Großstadt zu streifen – in der Geschwindigkeit einer Schildkröte. Denn angeblich wurden diese Tiere in Paris tatsächlich an der Leine spazierenflaniert, wenn man das so sagen kann.
Genau zu beobachten, mit Stift und Kamera, um das zu lesen, was der bekannte Flaneur Franz Hessel ‘die Lektüre der Straße‘ genannt hat. Und somit letztlich auch die Wahrnehmung zu schärfen für das, was Literatur ist und sein kann: „Literatur: Die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig machen.“
Dieses Zitat stammt aus Peter Handkes ‘Das Gewicht der Welt‘ und wirbt momentan für das internationale literaturfestival (ja mit kleinem „l“), das in diesen Tagen in Berlin stattfindet. Und es passt auch wunderbar zum Flanieren, wie ich finde.
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