12. Februar 2023

STIMMZETTEL’S TRAUM 

Aufgrund der heutigen Wiederholungswahl in Berlin ist mir wieder einmal bewusst geworden, dass auch ich Opfer einer Déformation professionelle bin und somit die Neigung habe, meine berufsbedingte Perspektive über ihren Geltungsbereich hinaus anzuwenden. Wollen Sie wissen warum? Gern. 

Auf einem der zugesandten Umschläge stand: „In diesen Stimmzettelumschlag nur alle Stimmzettel einlegen, sodann den Stimmzettelumschlag zukleben.“ Tatsächlich war das Wort „alle“ fett gedruckt. Das hat mich irritiert, denn wenn man in diesen Umschlag nur alle Stimmzettel einlegen soll, welche gäbe es denn sonst noch, die man nicht hineinlegen darf? Müsste es nicht korrekterweise heißen: „In diesen Stimmzettelumschlag ausschließlich alle Stimmzettel einlegen.“ 

Außerdem ist mir aufgefallen, dass das Wort „Stimmzettel“ unglaubliche vier Mal auf diesen Umschlag stand, davon dreimal in unterschiedlicher Schriftgröße und mit unterschiedlichem Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben. Und dann das Wort “sodann“.

Sie können sich vorstellen, dass ich mein nicht existierendes Gegenüber erstens auf die inhaltliche  Unkorrektheit aufmerksam gemacht habe, zweitens darauf bestanden habe, die Fett-Markierung zu löschen und stattdessen präzise zu formulieren. Drittens habe ich die inflationäre Häufung des Wortes „Stimmzettel“ und dessen uneinheitliche Schreibweise moniert und viertens sofort das „so“ von „sodann“ gestrichen, um dieses antiquierte Wort in ein alltagsgebräuchliches Wort zu verwandeln. (Das Wort „einlegen“ Habe ich großzügiger Weise unkommentiert gelassen, auch wenn ich „hineinlegen“ für passender halte.)

Sicher, wir haben es hier nicht mit Literatur, sondern mit einem Informationstext zu tun. Aber entschuldigt das diese Mischung aus sogenanntem Beamtendeutsch und Nachlässigkeit im Detail? Zumal das Stereotyp des Beamtendeutsch vielen Beamt*innen nicht gerecht wird, denn auch Lehrer*innen sind häufig verbeamtet und sie würden mit großer Wahrscheinlichkeit anders formulieren. Ganz zu schweigen von den vielen verbeamteten Jurist*innen, deren Denken eben nicht nur Schachtelsätze und unverständliche Fachterminologie produziert, sondern Nährboden für wunderbare Literatur sein kann, wie Novalis, Jules Verne, Franz Kafka, Marguerite Duras, Ferdinand von Schirach oder Juli Zeh beweisen. 

Ich erinnere mich an eine Lesung des Schriftstellers Norbert Scheuer hier in Berlin, bei der dieser voller Überzeugung sagte: “Als Schriftsteller muss man Beamter sein.“ Damit meinte er allerdings nicht den Schreibstil, sondern das disziplinierte und tägliche Schreiben, das unabhängig von Lust oder Ideen ausgeübt werden muss, um erfolgreich werden zu können. 

Aber zurück zum Stimmzettelumschlag. Ich bin sicher, dass viele Beamt*innen diszipliniert und unabhängig von Lust oder Ideen daran gefeilt haben, um zu verhindern, dass die Berliner Wahl ein weiteres Mal für ungültig erklärt wird. Dieses Mal, weil die Formulierung auf den Briefwahlunterlagen missverständlich formuliert war. Stichwort: Formfehler. In ein paar Tagen werden wir das wissen. 

P.S.: Ist Ihnen aufgefallen, dass der Apostroph in der Überschrift falsch ist? Es müsste eigentlich „Stimmzettels Traum“ heißen. Ich habe den Apostroph bewusst gesetzt als kleine Hommage an Arno Schmidt, dessen wahnsinniges 1970 erschienenes Monumentalwerk Zettel’s Traum mit diesem grammatikalisch unkorrekten Apostroph im Titel ausgestattet ist. Der Autor hat darauf bestanden. Und als Literat darf er das. Wie Schmidt wohl den Stimmzettelumschlag formuliert hätte? 

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