4. November 2011

VON SINNATTRAKTOREN, SINNPAKETEN UND SINNSTIFTERN

Heute vor einer Woche habe ich in Kassel an der Tagung „Geschichte/n zwischen Erfahrung und Erzählung. Von der Kunst, über das Leben zu erzählen“ des Fachverbands für Biografiearbeit teilgenommen. Besonders anregend war für mich der Vortrag von Prof. Dr. Arist von Schlippe zum Thema „Im Wissen um die alten Geschichten neue Geschichten erzählen.“

„Was nicht narrativ strukturiert wird, geht dem Gedächtnis verloren.“ (Jerome Bruner)

Dies bedeutet unter anderem, dass wir zu den Geschichten „werden“, die wir erzählt bekommen und die wir selbst erzählen. Und diese Geschichten haben manchmal die Eigenart, im Grunde aus „Nichts“ zu bestehen und gleichzeitig „hart wie Beton“ zu sein.

Auf meinem Rückweg nach Berlin im ICE-Großraumwagen lausche ich dem Gespräch einer Familie, die an einem Vierertisch sitzt. Vater, Mutter, zwei Kinder, circa zehn und fünf Jahre alt. Sie sind auf dem Weg zu den Großeltern nach Berlin und die Kinder – müde und aufgeregt zugleich – stellen alle möglichen Fragen zu Oma und Opa. Offensichtlich sehen sie sich sehr selten. So erfahre ich beispielsweise, dass die Oma „berühmt für ihre gute Küche“ war („Viel besser als eure Mutter“, sagt der Vater lachend, während die Mutter darauf gar nicht eingeht), seit ihrem Schlaganfall aber nicht mehr kochen könne und man sie darauf aber auf keinen Fall ansprechen solle!

Als wir alle zusammen am Berliner Hauptbahnhof aussteigen, denke ich an ein Zitat von Tad Goguen Frantz: „All families tell stories… and their members grow up and walk around with their stories under their skin.“

Und ich stelle mir vor, welche Auswirkungen die Geschichte mit dem Titel „Die Oma war berühmt für ihre gute Küche“ auf die Kochlust bzw. Kochunlust ihrer Tochter in früheren Zeiten hatte und vielleicht bis heute hat.

Die Geschichte wurde im Zug soeben weitergeschrieben. Und dieses neue Kapitel „Jetzt kann sie nicht mehr kochen und niemand darf sie darauf ansprechen“ wird ganz offensichtlich Auswirkungen auf die Haltung haben, mit der alle Vier der Oma bei diesem Besuch begegnen werden.

All diese Geschichten werden deshalb ’erfunden’, weil sie Sinn stiften, Orientierung ermöglichen und Struktur geben sollen, nicht zuletzt für das eigene Leben. Und so werden sie schnell zu so genannten Sinnattraktoren. Eine Art „Sinnpakete“, auf die sich ein Mensch oder ein soziales System festlegt und die häufig in ein „Ich bin eben so!“ oder – im Fall der Großmutter – in ein „Sie ist eben so!“ münden.

Das Tragische daran ist, dass diese Selbst- und Fremdbilder meist auf der Grundlage einseitiger Versionen dieser Geschichten entstehen, die viele andere Perspektiven ausschließen.

Welche Version würde wohl die Großmutter selbst erzählen? Oder – mit Bezug auf den Vortragstitel von Arist von Schlippe: Welche neue Geschichte könnte die Großmutter angesichts der alten Geschichte erzählen? Im Hier und Heute, in der Gegenwart, beim Besuch ihrer Familie?

Und wie wünsche ich mir, dass sie das tatsächlich tut…

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