30. Juli 2025

DER DUNNING-KRUGER-EFFEKT

Vor rund 25 Jahren haben zwei Sozialpsychologen namens Dunning und Kruger herausgefunden, dass wir Menschen manchmal dazu neigen, unsere eigene Kompetenz zu überschätzen. Zum Beispiel beim Schachspielen, Autofahren oder bei der Rezeption von Texten. Das ist erstmal keine Überraschung. Interessant ist allerdings, dass wir unsere Kompetenz umso eher überschätzen, je weniger kompetent wir sind. Ich stoße immer wieder auf literarische Varianten dieses Phänomens.

Beispielsweise, wenn Autor*innen ihr Buch vorstellen und manchmal ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sie selbst die größte Kompetenz in Bezug auf ihr Buch haben und ausschließlich sich selbst Deutungshoheit zusprechen. Mich verwundert das, denn ein Text ist „immer klüger als sein Autor“. Das hatte der legendäre Dramatiker Heiner Müller als Credo gewählt (und übrigens von jemandem gemopst, aber ich will hier nicht noch einen weiteren Namen notieren). Und das bedeutet, dass ein Text durch seine Leser*innen eine Interpretationsvielfalt erhält, die weit über die ursprünglichen Absichten und das Wissen des Autors oder der Autorin hinausgeht. Die Erklärung des Autors/der Autorin ist natürlich spannend, aber lediglich eine einzige von denkbar unendlich vielen Deutungen. Erst durch das Beziehungsgeflecht aller Lesarten entsteht die Tiefe eines Werks – davon bin ich überzeugt. Und darüber denke ich nach, seit ich vor einer Woche bei einer Buchvorstellung im Berliner Zentrum für Flucht, Vertreibung und Versöhnung war. Autor Jochen Buchsteiner hat seinen Bestseller „Wir Ostpreußen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte“ vorgestellt. Sein Begrüßungssatz lautete – ich zitiere: „Ich danke Ihnen, dass Sie so zahlreich erschienen sind, um sich mein Buch von mir erklären zu lassen.“ Dunning-Kruger? Nein, ich denke nicht, dass Buchsteiner das ernst gemeint hat. Ich glaube vielmehr, das war sein selbstironisches Spiel mit der Rolle des Autors und der möglichen Erwartungshaltung des Publikums. Das würde zu ihm passen. Trotzdem interessant: denn die Tatsache, dass er direkt zur Begrüßung mit diesem Phänomen spielt, zeigt, wie lebendig es ist.

P.S.: Wer wissen möchte, von wem Müller sein Credo übernommen hat, kann mir gern mailen 😉 

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