stiftproben
Ich bin literarische Profilerin.
Mich faszinieren Schrift-Zeichen, die über sich hinausweisen. Sprachliche Fundstücke aller Art. Anhand dieser Fundstücke versuche ich so viel wie möglich über die Menschen abzulesen, die diese vergessen, verloren oder weggeworfen haben. Einkaufszettel beispielsweise, nach denen ich in Einkaufswägen von Supermärkten gezielt Ausschau halte.
Meine Sammlung ’stiftproben‘ besteht aus solchen Stiftproben, die in Schreibwarenabteilungen von Kaufhäusern auf bereit gelegten Abreißblocks und auf einzelnen Blättern hinterlassen werden. Dabei interessiert mich die spezifische Kombination aus gewähltem Stift, gewähltem Wort und Handschrift. Diese Kombination kann viel über den kulturellen, sozialen und familiären Hintergrund der Person aussagen, die das Wort geschrieben hat.
Und mich interessiert das weiße Blatt als Fläche: für Projektionen, Wünsche und Ausdrucksformen. Die Suche nach einem passenden Stift ist dabei nur eine Möglichkeit von vielen. Das weiße Blatt kann ebenso spontane Kritzel-Fläche sein. Kontaktboard für Telefonnummern und Mailadressen. Oder eine Art öffentliche Toiletten-Tür, auf die in einem subversiven spontanen Akt unflätige und provokative Zeichen geschrieben werden.
Betrachtet man diese Zettel intensiver, erweitert sich ihre Bedeutung immer mehr. Die funktionalen Schriftstücke werden zu vielschichtigen Bildern. Angesiedelt zwischen figurativer Malerei, abstraktem Expressionismus und Graffiti-Kunst.
Diese Bildhaftigkeit wird besonders deutlich bei Stiftproben aus fremden Ländern. Entsprechend faszinieren mich die Blätter, die ich in japanischen Kaufhäusern gesammelt habe. Ihre fremdartigen Zeichen kann ich nicht dechiffrieren. Und möchte das auch gar nicht.