30. Oktober 2016

GERUHSAM WIRD COOL

img_5349Als ich am Dienstag mit dem Rad zum Hauptbahnhof gefahren bin, um dort einen Brief einzuwerfen, sah ich Ulrich Wickert, der gerade aus dem Haupteingang kam und auf ein Taxi zusteuerte. Er ging langsam, gebeugt und leicht hinkend. Dann öffnete er die hintere Tür des ersten wartenden Taxis, legte als erstes seine dunkle Aktenmappe auf den Rücksitz und setzte sich dann selbst hinein.

Ich musste an die vielen Tagesthemen-Sendungen denken, die er moderiert hatte. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Länger? Sein Markenzeichen waren die immer gleichen Abschiedsworte „Einen angenehmen Abend und eine geruhsame Nacht.“

Geruhsam. Geruhsam. Geruhsam… murmelte ich vor mir her, während ich mit dem Rad weiterfuhr Richtung Naturkundemuseum. Wann hatte ich das letzte Mal Jemanden das Wort „geruhsam“ sagen hören? Und habe ich selbst dieses Wort jemals in den Mund genommen? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es noch nie ausgesprochen hatte und so machte ich mir das Vergnügen, während des Fahrens dem ein oder anderen Menschen das Wort „geruhsam“ freudvoll entgegenzurufen und eine ältere Frau rief sogar zurück: “Ja! Ihnen auch!“ Ob Sie ebenfalls an Wickert dachte?

Im DUDEN stehen bei „geruhsam“ unter anderem folgende Synonyme: abgeklärt, ausgeglichen, bedächtig, beschaulich, betulich, cool.

Cool? Sofort sehe ich einen jungen Tagesthemen-Moderator vor mir, sagen wir in zehn, zwanzig Jahren, der die Sendung mit Worten beendet, die als Hommage an Wickert gedacht sind und gleichzeitig im (Selbst)Bewusstsein eines zeitgemäßeren Wortschatzes: „Einen angenehmen Abend und eine coole Nacht.“ Denkbar? Durchaus, finde ich.

 

Heute Nacht wurde die Uhr um eine Stunde zurück gestellt. Eine Stunde „gewonnen“, wie es immer heißt. In dieser gewonnenen Stunde schreibe ich diesen Blog und werde jetzt gleich anschließend das machen, was im DUDEN als drittes Beispiel für den Gebrauch des Wortes „geruhsam“ steht:

* geruhsam frühstücken

Aber nicht ohne Ihnen vorher einen geruhsamen Sonntag zu wünschen und Sie zu fragen, wann Sie zum letzten Mal dieses Wort ausgesprochen haben.

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