10. Juni 2012

MIT LETZTER TINTE

Sie erinnern sich an Günter Grass’ israelkritisches Gedicht, das vor rund zwei Monaten heftige Reaktionen ausgelöst hat. Nun hat er ein weiteres geschrieben, obwohl er „Was gesagt werden muss“ angeblich „mit letzter Tinte“ verfasst hat. Seine nun also in ein neues Tintenfass getauchte Feder hat „Europas Schande“ formuliert, ein Gedicht, das sich in zwölf je zweizeiligen Versen um die Krise Griechenlands dreht und in welchem er Europa vorwirft, dem Land den Giftbecher zu trinken zu geben wie man es einst mit Sokrates getan hat.

Ich frage mich, wer sich für dieses Gedicht interessiert und sich aktiv darum bemüht, es zu lesen – von Literaturbetriebsmenschen einmal abgesehen, die aus professionellen Gründen motiviert sind.

Interessanterweise haben 6.800 Personen diese Verse via Facebook empfohlen. Was allerdings auch daran liegen kann, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zum Spaß behauptet hatte, in Wirklichkeit habe das Satiremagazin Titanic das Gedicht geschrieben.

„Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht,

bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh.

Was mit der Seele gesucht, gefunden dir galt,

wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.“

Hohe Dichtkunst oder satirische Persiflage? Tatsächlich schwer zu sagen, nicht wahr? Natürlich muss man immer das gesamte Gedicht kennen, um sich ein Urteil zu bilden. Aber dennoch: was ist Ihr erster Eindruck?

Und: Warum tut Grass das? Aus einem persönlichen Wahn heraus? Literarischer Altersschwäche? Aus Trotz? Politischem Engagement?

Marcel Reich-Ranicki, der anlässlich des Erscheinens von „Was gesagt werden muss“ naturgemäß befragt wurde, ist sich über Grass’ Beweggründe sicher. Der FAZ hat er gesagt: „Er macht es aus einem sehr einfachen Grund. Er, Grass, war immer schon an Sensationen, an Affären, an Skandalen interessiert. Mit seinen Gedichten hat er wenig erreicht, Romane hat er nur einen wirklich sensationellen geschrieben, die „Blechtrommel“. Mit seinem literarischen Werk hat er erreicht, was er erreichen konnte, mehr hat er nicht zu bieten.“

Mich interessiert: kennen Sie die beiden Gedichte? Und was denken Sie über Grass’ Motive?

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