MURMELN
Vor kurzem habe ich einige Tage im Hamburger Hotel Reichshof gewohnt. Hier bringt das Schauspielhaus in langer Tradition seine Gäste unter. So hatte ich das Vergnügen, mehrere Tage gemeinsam mit der Schauspielerin Eva Mattes im selben wunderschönen Art Deco Raum zu frühstücken.
Ich kenne jetzt nicht nur ihre Frühstücksvorlieben (Müsli, Tee, Kaffee mit Wasser verlängert und am Wochenende ein Glas Sekt dazu), sondern konnte sehen, wie sie – immer am selben kleinen Tisch sitzend – in einem A5 großen Schreibheft gelesen hat, dessen enge Handschrift mit verschiedenfarbigen Markierungen versehen war. Dabei hat sie häufig vor sich hingemurmelt. Dieses Murmeln als spezifische Ausdrucksform geht mir seither nicht mehr aus dem Sinn.
Ich muss an Dieter Roths Theaterstück „Murmel, Murmel“ denken, das lediglich aus diesem einzigen Wort „Murmel“ besteht und vor rund zehn Jahren an der Berliner Volksbühne Furore machte. Mit der Dramaturgin dieser Inszenierung, Sabrina Zwach, die ich noch aus Studienzeiten kenne, habe ich mich einmal über diese besondere Qualität unterhalten, wenn ein einziges Wort je nach Inszenierung ganze Geschichten erzählen kann.
Doch zurück zum Murmeln: Gestern habe ich gelesen, dass in der St. Marien Kirche im niedersächsischen Delmenhorst eine zehn Meter lange Murmelbahn aufgebaut worden ist, anhand derer Kindern die Ostergeschichte nahegebracht werden soll, in der Steine (= Murmeln) offensichtlich eine besondere Rolle spielen – als weggerollter Grabstein beispielsweise. Und ich dachte, dass viele Gebets-Rituale gemurmelt werden. Im Zusammenhang mit der muslimischen Gebetskette Misbaha beispielsweise, der buddhistischen Mala oder beim Beten des christlichen Rosenkranzes.
Murmeln leitet sich übrigens vom lateinischen „murmurare“ ab und kann sowohl „flüstern“ als auch „murren“ bedeuten. Und das wiederum führt mich zu einem Regisseur, in dessen Effi Briest Verfilmung Eva Mattes mitgespielt hat und den man als murrenden Murmler bezeichnen könnte: Rainer Werner Fassbinder. Die Art wie er in Interviews seine glasklare Gesellschaftskritik murmelnd von sich gegeben hat, ist einzigartig. Ja, denke ich, Murmeln kann auch Stilmittel sein. Dann nämlich, wenn es wie aus einem Ei heraus zu hören ist. In diesem Ei reifen Gedanken und innere Bilder und brechen zum passenden Zeitpunkt durch die Schale.
Ich finde, wir alle sollten mehr murmeln und Worte, Sätze, Geschichten und friedvolle Botschaften aus unseren Gedankeneiern schlüpfen (= auferstehen) lassen. Frohe Ostern!
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