SAG MIR WAS DU LIEST UND ICH SAGE DIR WER DU BIST
Nachdem ich in meinem letztem Blogbeitrag ein bisschen mein Schicksal bejammert habe, dass es bereits Jahre her sei, seit ich zum letzten Mal auf ein allein gelassenes Buch gestoßen bin, hat sich eben jenes Schicksal offensichtlich ins Zeug gelegt.
So kann ich hier und heute verkünden, dass mir dieses Glück vorgestern Nachmittag um 17:30 Uhr am Bahnhof Hamburg-Altona auf einer Sitzbank an Gleis 6 bereits schon wieder zuteil wurde.
Als ich aus dem Zug aussteige sehe ich sie schon von weitem. Rund zehn Bücher liegen da, gehüllt in eine 70er Jahre-Vergilbtheit-Aura.
Als literarische Profilerin (mein EIGENTLICHER Beruf!) würde ich den Titeln nach schließen, dass sie von einem etwa 65jährigen Mann ausgesetzt wurden, der in mehreren deutschen Städten studiert, gearbeitet, vielleicht sogar geforscht hat. Inspiriert durch die 68er und von der Frankfurter Schule hat er begonnen Anglistik zu studieren, sein Studium allerdings abgebrochen und sich dem Wunsch seines Vaters, Jura zu studieren, untergeordnet. Jetzt, wo er älter wird, schließt er mehr und mehr Frieden mit seinen Eltern (vor allem seinem Vater, der allerdings bereits vor mehr als zehn Jahren gestorben ist, aber auch mit seiner Mutter, die immer noch lebt und die in ihm das künstlerische Pflänzchen gepflanzt hat, das er seit Jahrzehnten erfolgreich unterdrückt). Seit einigen Jahren begibt er sich auf Spurensuche seiner Familie väterlicherseits (eine Art seelische Wiedergutmachung), die aus dem ehemaligen Osten kommt, und mittlerweile ist er sogar bereit, sich von Büchern zu trennen, die ihm früher aus sentimentalen Gründen wichtig waren.
Oder auf wen würden Sie schließen, wenn Sie folgende Bücher finden würden: Stephan Kohls Studien zur Anglistik zu Wissenschaft und Dichtung bei Chaucer. Alfred Söllners Einführung in die römische Rechtsgeschichte. Mecklenburg-Vorpommern: Kirchen in Städten. Sowie Kino in der Stadt: Eine Frankfurter Chronik.
Der Wahrheit halber muss ich gestehen, dass auch eine kleine Werbebroschüre der Hamburger Wasserwerke dabei lag. Vermutlich aus den 60ern, der Titelgrafik nach zu schließen.
Das Geheimnis dieser Broschüre ist für mich noch nicht gelüftet. Und auch nicht, was diesen Mann dazu getrieben hat, seine Bücher auf einem Bahnsteig auszusetzen.
Um kostenlose Reiselektüre zu schenken? Wohl kaum. (Oder ist er so egozentrisch, dass er denkt, jemand würde sich mit einem Buch über Kirchen in Mecklenburg-Vorpommern vergnügen wollen?)
Oder wollte er sie selbst lesen und hat dann kurzfristig vor dem Einsteigen in den Zug beschlossen, sich allen Ballasts zu entledigen und ohne großes Reisegepäck zu reisen? Ebenfalls unwahrscheinlich.
Oder leidet er an einer psychischen Krankheit? Oder wurde seine Bücherwand ausgeraubt und bevor die beiden Diebe mit dem Zug aus der Stadt fliehen konnten, haben sie die wertlosen Bücher aussortiert, es aber nicht übers Herz gebracht, sie aus einfach wegzuwerfen (sie lieben Bücher!)?
Was meinen Sie?
P.S.: Was habe ich daraus gelernt? Manchmal ereilt einen das Glück wesentlich schneller, als man denkt. (Das Schicksal ein bisschen zu provozieren, kann dabei allerdings durchaus hilfreich sein.)
P.P.S.: Honeymoon (das Findelkind der letzten Woche) hat eine neue Besitzerin gefunden. Und wie ich erfahren habe, wird dieses Buch vielleicht sogar erneut in einer U-Bahn ausgesetzt werden.
Der natürliche Kreislauf des Buch-Lebens also.
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