31. März 2017

UNFASSBARKEITEN

„Ich will den Schmerz das Singen lehren“ lese ich auf dem Litfass-Säulen-Werbeplakat vor der Schleicher’schen Buchhandlung in Dahlem. Vor zwei Tagen war das, direkt nach dem Ende des letzten Termins meines Einführungsseminars Autobiografisches Schreiben.

Ein intensives und berührendes Seminar, an dessen achten und letzten Termin das Thema „älter werden“ immer wieder aufgetaucht ist. Und die Frage, auf welche Art und Weise wir uns mit dieser Frage – und mit dem, was sie in uns auslöst – schreibend auseinandersetzen können.

Wie passend, denke ich, als ich diesen Satz lese über den Schmerz, den (nicht: dem!) ein Ich das Singen lehren will (nicht: möchte! Nicht: werde!).

Dieses Ich ist Martin Walser. Und das Plakat wirbt für Walsers neuen Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ und bezeichnet diesen als „Höhepunkt in Martin Walsers Alterswerk – ein neuer Roman als Summe und Bilanz.“

Davon abgesehen, dass ich mich immer wieder frage, ab wann bei Autor*innen von „Alterswerk“ die Rede ist, fasziniert es mich immer wieder, wie unterschiedlich sich dieses gestaltet.

Im Gegensatz zum männlichen Alterswerk von Martin Walser, der seiner literarischen Herangehensweise, seinem Stil und seiner Art des um-sich-Kreisens letztlich treu geblieben ist (dieser Roman nun soll jetzt eine Ausnahme sein, hat ihn jemand von Ihnen bereits gelesen? Stimmt das?), gibt es beispielsweise das Alterswerk von Friederike Mayröcker: ein wunderbarer weiblicher Gegenpol des Schreibens. Jedes ihrer Bücher geht eigene Sprachwege und besticht durch immer wieder neue Darstellungsformen.

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Im Rezensionsforum Literaturkritik.de schreibt Herbert Fuchs anlässlich Mayröckers 90. Geburtstag vor zwei Jahren: “Im Schreibvorgang können die lebensbeschwerlichen Situationen des Alterns gleichsam dadurch überwunden werden, dass sie von ihren biografischen Bezügen gelöst und zu Chiffren des Lebens überhaupt werden. Das Dichten wird zu einem Anschreiben gegen Lebensverfall und Lebensende. Schreiben wird zu einer Bewältigung der bedrängenden Momente des Alters, die Niederschrift zu einer Strategie gegen den Tod.

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Autobiografisches Schreiben wird von den meisten (schreibenden) Menschen vor allem mit rückblickender Erinnerung, der Vergangenheit also, in Verbindung gebracht. Für mich bedeutet es hingegen eine ganz bewusste Verbindung zwischen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zeit.

Entsprechend konfrontiert sich auch Mayröcker, wie sie sagt, mehr und mehr bewusst mit Fragen, die sie durchaus hilflos machen: Wer bin ich? Warum bin ich so, wie ich jetzt bin? Was macht mein Leben aus? Wodurch wurde es bestimmt, wodurch wird es jetzt bestimmt? Was hält die Zukunft bereit?

Und genau diese existentiellen Fragen sind es, die uns schreibende Menschen alle miteinander verbinden. Und zwar ganz unabhängig davon, ob wir bekannte Autor*innen sind, deren Alterswerk rezensiert wird, oder ob wir in einem Seminar gemeinsam schreiben.

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„Unfassbar sein

Wie die Wolke

die schwebt…“

Auch das steht noch auf dem Litfass-Säulen-Plakat.

Und ich denke: ja, diese existentiellen Fragen sind im wahrsten Sinn des Wortes „unfassbare“ Fragen. Durch das autobiografische Schreiben wandelt sich die Unfassbarkeit dieser existentiellen Fragen allerdings manchmal in eine andere Form von Unfassbarkeit: die Unfassbarkeit einer Wolke, die schwebt.

Und das ist wohl einer der Gründe, warum mich autobiografische Schreiben so faszinieren.

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